Der Tag, an dem aus Hüseyin Deniz ein Terrorist wird, ist ein Dienstag. Es ist der 20. Dezember 2011, um 5 Uhr morgens, als es an die Tür der Familie Deniz hämmert. Hüseyins Schwester Dilsah öffnet die Tür. Sie kommen zu acht, ihn zu holen, die Staatsmacht drängt sich in die kleine Wohnung in einer ruhigen Istanbuler Wohngegend. Dilsah Deniz weckt ihren Bruder und glaubt, dass es sich um eine Verwechslung handelt.
Bis zu diesem Tag war Deniz, 47, Journalist. Er arbeitete als Korrespondent für die türkische Zeitung „Evrensel“ in Deutschland, in Istanbul ist er nur zu Besuch. Seiner alzheimerkranken Mutter geht es schlecht, er ahnt, dass sie nicht mehr lange zu leben hat. Während die Polizei die Wohnung auf den Kopf stellt, schläft die Mutter und bekommt nicht mit, wie sie Schränke und Schubladen durchwühlen und schließlich ihren Sohn als Terroristen abführen. Die Polizisten nehmen 150 CDs, mehrere Speicherkarten und vier Computer der Familie mit. Auch den von Dilsah, die gerade an ihrer Doktorarbeit schreibt. Der Vorwurf: Hüseyin sei Mitglied der KCK, einer Unterorganisation der verbotenen Arbeiterpartei PKK.
Die Anklage gegen Deniz wird mit Artikel 314 des Strafgesetzes begründet; Mitgliedschaft in einer bewaffneten Organisation. Dazu kommt Artikel 5 des Anti-Terrorgesetzes: Propaganda für eine terroristische Organisation. Ihm drohen 15 Jahre Haft. Die Anklage gegen ihn beruht auf einer geheimen Zeugenaussage und drei Stempeln in seinem Reisepass.
Der Beginn der Proteste in Istanbul wurde von den großen Medienkonzernen auffallend ignoriert. Während der Auseinandersetzungen am Taksim-Platz sendeten die Fernsehkanäle eine Dokumentation über Pinguine und Quizshows. Diese Zurückhaltung hat einen guten Grund: Obwohl es in der Türkei eine sehr breite Medienlandschaft gibt, darunter auch viele linke und alternative Medien, sind die großen Medienkonzerne in der Hand von Geschäftsleuten. Deren ökonomische Interessen verhindern oftmals eine kritische Berichterstattung.
Die Protestbewegung hat sich hauptsächlich über soziale Netzwerke wie Twitter organisiert. Am 4. Juni wurden mindestens 34 Twitter-Nutzer in Izmir verhaftet, die Nachrichten über Treffpunkte oder den Einsatz von Tränengas sendeten. „Es gibt etwas, was sich Twitter nennt – eine Plage. Die größten Lügen sind hier zu finden“, sagte Premierminister Erdoğan in einer Fernsehsendung. Für ihn seien die sozialen Medien „die schlimmste Bedrohung von Gesellschaften“. Seit Beginn der Proteste wurden nach Informationen von „Reporter ohne Grenzen“ 14 Journalisten verletzt, mehrere von ihnen schwer. Mehrere Journalisten gaben an, dass sie trotz ihres Presseausweises gezielt angegriffen wurden, Fotos und Videos abgeben mussten und zeitweise festgehalten wurden.
Am 17. Juni kündigte der türkische Innenminister Muammer Güler an, „falsche oder provokative“ Informationen in sozialen Netzwerken bekämpfen zu wollen. Einen Tag später wurden zahlreiche Wohnungen und Redaktionsräume durchsucht, und insgesamt 85 Personen in Istanbul und Ankara festgenommen. Die Festnahmen sind offiziell Teil einer Operation gegen Terrorismus, gleichzeitig werden die Personen auch verdächtigt, öffentliches Eigentum zerstört zu haben und zu Gewalt gegen die Polizei während der Gezi-Proteste aufgerufen zu haben. Die türkische Journalisten-Gewerkschaft berichtet anhaltenden Übergriffen gegen einzelne Journalisten und hohen Geldstrafen, die gegen mehrere Radio- und TV- Kanäle verhängt wurden, die über die Proteste berichteten.
Deniz arbeitet seit Jahren an einem kurdischen Wirtschafts-Wörterbuch und reiste zu Recherchen drei Mal in die von Kurden bewohnten Gebiete, auch in den Irak und den Iran. Der Staatsanwalt wirft ihm dagegen vor, er habe an geheimen Treffen der PKK in den Kandil-Bergen im Nordirak teilgenommen. Dabei entlasten ihn Zeugen, und Fotos belegen, dass er zum Zeitpunkt der PKK-Treffen längst wieder in Berlin war.
Das Anti-Terrorgesetz der Türkei stammt aus den neunziger Jahren, als die Auseinandersetzung zwischen Kurden und türkischer Armee ihren Höhepunkt hatte; unter der Regierung Erdoğan wurde es nochmals ausgeweitet. Es erlaubt dem Staat sich seiner unbequemen Kritiker bequem zu entledigen, sie abzuschieben in Gefängnisse, wo sie oft Monate oder Jahre auf ihr Verfahren warten müssen. 2012 nennt die Organisation „Reporter ohne Grenzen“ die Türkei das „größte Gefängnis für Journalisten“, zeitweise sind mehr als hundert inhaftiert, mehr als in jedem anderen Land der Welt. In den letzten Jahren sank die Türkei bei der weltweiten Rangliste der Pressefreiheit auf Platz 154 – von insgesamt 179.
„Das ist kein Fall für die Justiz“ sagt Hüseyins Anwältin Nazan Yaman, „von Anfang an haben wir beweisen können, dass die Vorwürfe gegen ihn nicht wahr sind“, sagt sie. Yaman ist eine untersetzte, energische Frau. Immer muss auch sie damit rechnen, verhaftet zu werden.
Die sogenannte KCK-Operation begann im April 2009. Damals gewann die kurdische Partei bei den Kommunalwahlen in den kurdischen Gebieten haushoch und verdrängte die AKP von Regierungschef Erdoğan. Kurz darauf begannen die Verhaftungen. „Zuerst waren es Politiker, dann Anwälte, dann Professoren und Studenten, dann die Journalisten“, sagt Fatih Polat, Chefredakteur von Deniz’ Zeitung „Evrensel“.
Der Vater, ein Tischler, stirbt früh, die Mutter ist Hausfrau und gibt ihren Kindern das mit, was sie selbst am meisten vermisste: Bildung. Deniz studiert erst Bauwesen, später Ökonomie, hatte einen sicheren, gutbezahlten Job, den er dann aufgibt: Er entscheidet sich, Journalist zu werden. „Er wollte es unbedingt“, sagt Dilsah Deniz, „niemand würde in der Türkei sonst Journalist werden, es gibt kaum Geld, keine Sicherheit – ein gefährlicher Beruf.“
Hochsicherheitsgefängnis Kandıra, Provinz Koaceli. Anderthalb Autostunden von Istanbul entfernt, dort, wo sich die Großstädter an der Schwarzmeerküste erholen, sitzt Deniz in Haft, Block F-Typ 1. Seine Zelle ist etwa 16 Quadratmeter groß, er teilt sie sich mit zwei anderen Journalisten. Deniz nutzt die endlosen Stunden in Gefangenschaft, liest und schreibt viel, arbeitet an einem Buch, darüber, wie nach dem Militärputsch 1980 Gewerkschafter und Linke verfolgt wurden. Er lernt auch weiter Deutsch, seine Berliner Freunde schicken ihm deutsche Bücher.
Bis zum ersten Prozesstermin im September 2012 vergeht ein Jahr. In diesem Jahr stirbt Deniz’ Mutter ohne ihren Sohn noch einmal zu sehen. Um an ihrer Beerdigung teilzunehmen, hätte Hüseyin etwa 2500 Euro Kaution zahlen müssen – Geld, das die Familie nicht hat.
Die KCK („Koma Civakên Kurdistan“), die „Union der Gemeinschaften Kurdistans“, ist eine Untergrundorganisation, die oft als „Stadtorganisation“ der PKK bezeichnet wird. Ihr Ziel ist die Umsetzung der Idee eines „Demokratischen Konföderalismus“, den Abdullah Öcalan 2005 in seinen Verteidigungsschriften formulierte. Mitglieder in der auch als „Dachorganisation“ der PKK bezeichneten KCK sind sowohl illegale wie auch legale Organisationen und Gruppierungen. Die KCK-Gerichtsverfahren richten sich gegen einen großen Teil der kurdischen Zivilgesellschaft, unter anderem auch gegen die Anwälte von Öcalan. Den angeklagten Journalisten wird vorgeworfen, Mitglieder des KCK-Pressekommitees zu sein und ihren Beruf als Tarnung für KCK-Propaganda zu nutzen. Insgesamt sind tausende Menschen angeklagt, genaue Zahlen sind schwierig zu nennen. Lokman Turgut vom kurdischen Institut in Erfurt geht von 2000 bis 2500 Menschen aus, die als Mitglieder der KCK angeklagt sind. Von kurdischer Seite werden oft Zahlen von 10.000 bis 15.000 Menschen genannt, da auch die Personen, die unter dem Anti-Terrorgesetz angeklagt sind, mitgezählt werden.
In der Zelle ist Hüseyin der älteste, „unser gesunder Menschenverstand“, sagt ein ehemaliger Zellengenosse, der beim letzten Prozesstermin entlassen wurde. Mit Zuckerwürfeln und Brotstücken spielten sie Backgammon. Nur einmal im Monat dürfen sie andere Gefangene sehen, die meiste Zeit sind sie zu dritt. Doch über die Abflussrohre können sie mit anderen Zellen reden, manchmal spielen sie so Schach gegeneinander, „Springer auf F8“ rufen sie, und warten auf die Antwort aus dem Rohr. Über diese Rohre führte Deniz auch einmal ein Interview mit einem Mitgefangenen im Hungerstreik, und schickte es an seinen Chefredakteur.
In Berlin, wo Hüseyin seit 2009 lebte, organisieren seine Freunde eine deutsche Anwältin, kümmern sich um seine verwaiste Wohnung im Wedding und gründen eine Facebook-Seite. Auf einen Brief an das deutsche Konsulat in Istanbul erhalten sie eine ernüchternde Antwort: Man sehe die Entwicklung der Pressefreiheit mit Besorgnis, doch leider könne man nichts tun, Hüseyin sei kein deutscher Staatsbürger.
22. März 2013, Hüseyin ist seit 488 Tagen in Haft. Nach den ersten Verhandlungen in Istanbul wurde der Prozess nach Silivri verlegt, rund 80 Kilometer westlich von Istanbul. Hier ist das Interesse der Medien geringer als in der Metropole und der Weg für die Angehörigen weiter. Bei Silivri ist das größte Gefängnis Europas, über 10.000 Menschen sind hier inhaftiert, eine Kleinstadt schon fast. Neben stacheldrahtbewehrten Mauern stehen die Wohnblocks der Wärter, daneben eine Moschee, vor der Kinder spielen. Es ist früh am Morgen, ein kleiner, schäbiger Raum. Viele Angehörige und Freunde sind gekommen, lassen die Sicherheitskontrollen am Eingang über sich ergehen und nehmen auf den engen Zuschauerreihen Platz. Die Atmosphäre ist fast familiär, man kennt sich. Von den 46 Beschuldigten sitzen noch 26 im Gefängnis, die anderen wurden unter Auflagen aus der Untersuchungshaft entlassen. Es ist bereits der vierte Prozesstermin, die 800 Seiten lange Anklageschrift ist noch immer nicht verlesen. Doch heute werden es die letzten Seiten sein und eine vorsichtige Erwartung kauert im Gerichtssaal. Alles ist möglich, vielleicht soll ein Zeichen gesetzt werden, vielleicht kommen diesmal alle frei. Dilsah Deniz traut sich nicht zu hoffen. Und tut es doch.
Am späten Nachmittag ist die letzte Seite der Anklageschrift verlesen. Vier Tage später werden zwei der angeklagten Journalisten freigelassen. Deniz ist nicht dabei. Der Prozess wird in zwei Monaten fortgesetzt.













